Für Sandra und Drache zum Geburtstag

Puh, ein Bär

Kalt war es geworden, bitterkalt. Das konnte dem Kleinen Drachen glücklicherweise nicht viel ausmachen, denn er hatte - wie alle Drachen - eine dicke Haut, die ihn auch im schlimmsten Winter noch wundervoll warm hielt. Eine feste Eisdecke bedeckte den Fluß und auf dem, was früher einml die Wiese gewesen war, hinterließen die Schneehasen die Spuren ihrer Spiele - und manchmal auch ein paar schwarze Flecken. In der dunkelgewölbten Drachenhöhle lag noch immer die Mutter des kleinen Drachen und schlief

Der Kleine Drache fragte sich, was er mit der ganzen kalten Zeit, die er jetzt hatte, anfangen sollte, denn da seine Mutter ihm nichts vom Winterschlafen erzählt hatte, liegt es auf der Hand, daß sie ihn natürlich noch weniger darüber gelehrt hatte, was er tun sollte, wenn es eigentlich Winterschlafenszeit wäre. Tag um Tag verging ohne besondere Ereignisse, ohne neue Aufgaben, ohne das ausgelassene Spielen mit den alten Freunden. Ein paarmal versuchte der Kleine Drache, den Schneehasen beim Spielen zu helfen, doch die hatten Angst vor ihm un liefen davon, denn sie hatten noch nie einen Drachen gesehen. Schließlich leben Schneehasen im Schnee und Drachen schlafen, wenn Schneehasen leben.

Doch eines Morgens wachte der Kleine Drache auf und schaute wie immer durch das Fenster auf die Wiese am Fluß und er konnte seinen Augen nicht trauen: dort, im Schnee, im watteweichen, eiskalten Weiß, waren riesige Fußtapfen zu sehen - Drachenspuren. Der Kleine Drache schaute genau hin und zählte die Abdrücke der Zehen und er fand drei und die beiden versteckten. Es gab keinen Zweifel, hier war in der Nacht ein Drache vorbeigekommen und er, der er doch auch einer war, hatte es nicht gehört.

Aufgeregt und überglücklich sprang der Kleine Drache hinaus auf die Wiese und rannte wie er noch nie gerannt war auf den fremden Spuren den Fluß entlang. Nach ein paar Minuten machte er kehrt, lief zurück in die Höhle und schrieb seiner Mutter eine Nachricht, für den Fall, daß sie vor seiner Rückkehr aufwachen sollte. Er stubste sie zum Abschied noch einmal sanft und machte sich auf die Suche nach dem unerkannt Vorbeigezogenen.

Die Wiese am Fluß vor der Höhle erstreckte sich weit, so weit, daß der Kleine Drache noch nie bis zu ihrem Ende gelaufen war. Ja, er hatte noch nicht einmal gewußt, daß sie irgendwann irgendwo aufhörte. Vor ihm verschwand der Fluß in der Düsternis eines dichten Waldes, mächtige Bäume streckten ihre herbstentlaubten äste in einen grauen Winterhimmel und kein Geräusch, nicht einmal deas Glucksen des verschluckten Wassers, entwich der ungeheuren Schattenwand. Und dorthin, in die sich den Blicken entziehende Dunkelheit, in ein Land, das dem Kleinen Drachen so fremd war wie Kolumbus den Indianern, dorthinein führten die Spuren des nächtlichen Besuchers.

Die Tiere, die an den Hängen des großen Berges lebten, erzählten sich furchterregende Geschichten über den grimmigen Wald, von mächtigen Ungeheuern, die in den Bäumen wohnten und sich mordend auf jedes Lebewesen stürzten, das den Fehler beging, ihnen zu nahe zu kommen, von pechschwarzen Seen, in denen Wasserwercke[1] ihr Unwesen trieben, von vergifteten Wasserläufen, in denen noch nie ein lebender Fisch gesehen wurde und angeblich hatte noch kein sterbliches Wesen den Wald lebendig wieder verlassen. Selbst die, die von all diesen Dingen nichts wußten, mieden diese düstere Gegend, denn ein Hauch des Bösen schien über den Bäumen und Sträuchern zu liegen. Wenn der Kleine Drache kein Drache gewesen wäre, dann wäre die Geschichte an dieser Stelle beendet, er hätte furchtsam den Schwanz eingekniffen, einen traurig-schuldbewußten Blick auf die unbeeindruckten Fußstapfen geworfen und wäre zurückgelaufen in die dunkelgewölbte Drachenhöhle, in der seine Mutter lag und schlief und nichts ahnte von der Gefahr, in die ihr Sohn sich beinahe begeben hätte. Doch Drachen kennen keine Angst, denn es gibt Niemanden, sei es Mensch, Tier oder Ungeheuer, der stärker oder weiser wäre als sie.

Und so lief der Kleine Drache unbeirrt den Spuren hinterher, in den finsteren Wald hinein. Um die Spannung wieder ein wenig zu senken, können wir uns an dieser Stelle überlegen, daß er auch ganz offensichtlich wieder herausgekommen ist, denn wie sollten wir sonst etwas von ihm wissen. Schließlich würde doch weder ich noch Du, liebe Leserin, lieber Leser, jemals den Mut aufbringen, den beiden zu folgen. Machen wir uns also nicht zu viele Sorgen um das Schicksal unseres kleinen Helden, sondern erfreuen wir uns an seiner kindlichen Unbekümmertheit.

Für den Kleinen Drachen stellte der Wald eine neue Welt dar, ein Land, das so vollkommen anders war als alles, was er kannte. Weit reichte sein Blick von der heimischen Höhle über die Wiese, den Fluß, ins Tal hinab und auf die Berge, hinter denen Abends die Sonne verschwand, hell war es im Tageslicht und sternenklar bei Nacht, das stetige Rauschen des Flusses und das rascheln der Grashalme im Wind waren die einzigen Geräusche, die die Stille dort störten. Hier jedoch versperrten mächtige Baumriesen den Blick auf gewaltige, moosbewachsene Felsen, auf den Fluß, dessen Wellenklang vom Geräsch der windbewegten Äste übertönt wurde, auf was auch immer mehr als hundert Drachenschwanzlängen entfernt war. Staunend stupste der Kleine Drache die Bäume an, sanft, um sie nicht zu entwurzeln, aber doch fest genug, sie erzittern zu lassen. Nur mit Mühe konnte er sich dazu überwinden, die Erkundung der vielen im Dunkel verborgenen Wunder auf später zu verschieben und weiter der Spur zu folgen, die ihn schon so weit geführt hatte.

Nach einiger Zeit wurde der Wald ein wenig lichter, der Fluß weitete sich zu einem kleinen, felsbeuferten See, über dessen schneebedeckte Oberfläche sich weitausladende Bäume neigten. Viele Spuren überzogen die weisse Ebene, auch der Weg des Kleinen Drachen führte hinüber auf die andere Seite. Wo ein Drache hergehen kann, wird auch ein zweiter nicht einbrechen, dachte er sich und betrat unbekümmert, wenn auch nicht ohne Vorsicht, das weissbepuderte Eis. Schritt für Schritt näherte er sich der Mitte des Sees und danach wieder dem Ufer, stetig das Knacksen der Schicht gefrorenen Wassers in den Ohren bis er plötzlich ... wieder festen Boden unter den Füssen verspürte. An dieser Stelle sprang ein schmaler Wasserlauf den Berg hinab in den See, jetzt im Winter natürlich gefroren, so daß das Sonnenlich in tausenden zu Eiswänden erstarrten Wasserfällen brach und die wundersamsten Bilder auf die rauhen Felswände warf.

Mittlerweile war der Kleine Drache doch ein wenig müde von der langen, ungewohnten Wanderung, und so beschloß er, hier eine zeitlang zu verweilen und den Anblick des romantisch daliegenden Gewässers zu genießen. Welch friedvolle Stille, dachte er sich, unwissend, daß es diese in einem lebendigen Wald nicht geben sollte, wo doch die Gespräche der Vögel und die Rufe der wilden Tiere die Lüft erfüllen. Hier jedoch deuteten nur die Spuren im Schnee auf die Anwesenheit anderer hin. Seinen Füssen ein wenig Entspannung gebend setzte der Kleine Drache sich an neben einen der grossen Steinklumpen, streckte die Beine aus und döste eine Weile vor sich hin. Der Hauch eines Geräsches schreckte ihn auf, gerade noch rechtzeitig, um einen dunklen Schatten zu erkennen, der mit einem langen Satz über den grauen Stein sprang, um ich bedrohlich vor unserem Helden zu postieren.

"Buh!" machte das gesprungene Ding. "Puh!", sagte der kleine Drache. "Wer bist denn Du?" - "Nicht puh, buh!", kam die Antwort seines Gegenübers, "und ich bin ein Bär". Mit einem forsch forschenden Blick betrachtete der Kleine Drache den braungezottelten Besucher, den Knopf in seinem spitzen Ohr, die weichen Pranken mit den drei plus zwei Zehen, das flauschige Fell und das verschmitzt sein Gesicht umspielende Lächeln und er wußte sofort, daß seine Suche nun zu Ende war. "Du warst es also, der heute Nacht an unserer Höhle vorbeigelaufen ist. Und ich dachte schon, es wäre ein anderer Drache gewesen. Ich bin nälich der Kleine Drache und ich lebe auf der Wiese am Fluß." - "So, so," sagte der Bär, "und was macht ein so junges Ding wie Du hier, so weit von zu Hause entfernt? Und was würde Deine Mutter sagen, wenn sie Dich hier sähe?"

Das war natürlich eine gute Frage, denn der Kleine Drache hatte ehrlich gesagt überhaupt keine Ahnung, warum er nun wirklich den Spuren hinterhergerannt war. Vielleicht aus Langeweile, weil das ewige rumsitzen daheim nicht wirklich das war, was er von seinem Leben erwartete, vielleicht aus Neugierde, vielleicht, um der Einsamkeit zu entrinnen? "Meine Mutter liegt die ganze Zeit nur in der Höhle herum und schläft und deshalb ist es ihr auch egal", sagte er leichthin. "Ausserdem wollte ich endlich einen anderen Drachen sehen." Grummelnd wiegte der Bär sein schweres Haupt. "Bist Du jetzt enttäscht, mich zu sehen und nicht einen Deiner grünen Freunde?" - "Aber ich weiß doch gar nicht, ob sie meine Freunde sind, denn ich kenne keinen einzigen von ihnen. Hast Du vielleicht einen anderen Drachen gesehen?" "Weißt Du, Kleiner Drache, manchmal ist es besser, die Antworten auf einige Fragen nicht zu bekommen. Aber schau nur, es ist schon beinahe Nacht und all die Sterne stehen strahlend am Himmel. Hast Du jemals etwas so schönes gesehen?" Der Kleine Drache spürte, daß etwas sehr trauriges den Bären berührte und er drückte ihn und legte seinen Arm um seine Schultern und so standen sie eine lange Zeit da und bewunderten die Erhabenheit des tiefschwarzen Gewölbes über ihnen.

"Bär", sagte der Kleine Drache, "ist die Welt nicht wunder, wunderschön?" Und dann liefen die beiden gemeinsam davon, um die Wunder der Schönheit zu erforschen.



Fußnoten

[1] Wercke sind so etwas wie Gnome, nur viel, viel größer. Sie sind von äußerst plumper, geradezu würfelförmiger Gestalt, haben selbst dort Muskeln, wo andere Gehirne haben und sehen die ganze Welt in schwarz, weiß und pink. Lange Zeit wurde angenommen, daß Wercke die dümmsten auf der Erde wandelnden Geschöpfe sind, dies konnte aber widerlegt werden, als ein Team peruanischer Geologen die Eier einer prähistorischen Lebensform entdeckten, die so blöd sind, daß bei ihnen nicht einmal mehr das Wachstumsgen funktioniert, weshalb sie in ihrer Entwicklung nie über das Stadium eines Kalkellipsoiden hinausgekommen sind. Eine bis heute unbeantwortete Frage ist die nach der Herkunft der Eier... Die zweite Annahme über Wercke, die sich als falsch erwiesen hat, ist die, daß sie die stärksten Wesen sind, die die Schöpfung jemals gesehen hat.
Ein Wasserwerck ist ein Werck, der vor Jahren oder auch Jahrhunderten mal in einen Teich oder See gefallen ist und nicht mehr hinausgefunden hat. Wo der Geist versagte, half Natura nach und ließ ihnen ein paar Kiemen nachwachsen, so daß die Wasserwercke die einzigen bekannten kiemenatmenden Wirbelwesen sind.

(C)1999 Richard Brauer

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