Die Geschichte vom Kleinen Drachen und dem großen Berg

Es war einmal ein Kleiner Drache, der wohnte mit seiner Mutter am Fluß in einem Land, ganz weit weg von hier. Er spielte den ganzen Tag über mit seinen beiden Freunden, der Eintagsfliege Sam und der Kuh Mathilda. Die drei tobten auf den Wiesen und versuchten, einander zu fangen, was nie funktionierte, weil sie entweder zu groß, oder zu klein füreinander waren. Wenn der kleine Drache abends müde wurde und enttäuscht war, weil er schon wieder nicht gewonnen hatte (was im Übrigen auch kein anderer aus der Gruppe jemals geschafft hatte), dann entlud er manchmal seinen Unmut in einem kleinen, wunderschönen Feuerball, der nur allzu oft den kleinen Sam in Mitleidenschaft zog, aber das schien nicht so schlimm zu sein, denn am nächsten Tag war Sam wieder da, so quicklebendig wie gestern, und er konnte sich an nichts von dem erinnern, was der kleine Drache gemacht hatte.

So lebten die drei einen ganzen Sommer lang, Sam sauste dem Kleinen Drachen und Mathilda um die Nase, der Kleine Drache sprang wie wild über die Wiese und heizte von Zeit zu Zeit dem kleinen Sam ein wenig ein und Mathilda stand meistens nur da und verstand nicht, was die anderen taten. Meistens bekam sie nicht einmal mit, daß der Kleine Drache und Sam sie zum Spielen aufforderten, aber wenn sie sich gerade schön satt fühlte und auch kein Gras im Mund hatte, dann hüpfte sie über die wunderschöne Wiese und riß große Löcher in die Weidefläche am Fluß.

Doch der Sommer ging vorüber und eines Tages wartete der Kleine Drache vergeblich auf den kleinen Sam. Er lief so weit, wie er noch nie gelaufen war, er schaute unter allen Steinen am Flußufer und sogar hinter Mathildas zierlichen Kuhohren, aber er konnte Sam nirgends entdecken. Und das Verschwinden von Sam war nicht das einzig Rätselhafte. Denn auch Mathilda hatte sich verändert. Ihr Fell war dicker geworden, und wo früher winzige, dunkle Punkte zu sehen waren, zierten jetzt riesige schwarze Flecken ihren Rücken und sogar ihre Beine. Wenn der Kleine Drache sie nur lange genug anstarrte, dann verschwamm die freundliche Kuh vor seinen Augen zu einem großen, flimmernden, schwarz-weißen Klumpen, so wie ein paar Schafe, die im Kohlenkeller überwintert hatten und nun versuchten sich zu reinigen, indem sie aufeinander herumsprangen. Irgendwann fielen dem Kleinen Drachen dann die Augen zu und er fiel in einen tiefen, erholsamen Schlaf, aus dem er gewöhnlich urplötzlich aufschreckte, wenn Mathilda ihn beim Grasen sanft mit der Nasenspitze anstubste.

Und dann wurden die Tage immer kürzer, das Gras wuchs nicht mehr so schnell wie früher und immer häufiger wurde der Kleine Drache beim Spielen naß, weil die Regentropfen keine Rücksicht darauf nahmen, daß er gerade draußen herumtoben wollte. Den Regentropfen war es offenbar sogar einerlei, daß er sie mit kleinen Feuerbällen bewarf und sie so in Dampfwölkchen verwandelte; sie fielen einfach weiter und verhöhnten ihn durch ihr ewiges »Platsch« und die unzähligen Kringel, die sie auf die Oberfläche des Flusses zauberten. Der Kleine Drache gewöhnte sich daran, das Haus nicht mehr so häufig zu verlassen und auch daran, daß Mathilda nicht mehr auf der Wiese herumstand und Dinge tat, die weder er noch sie verstanden.

Nur wenige Tage nach dem Verschwinden der gutmütigen Mathilda wachte der Kleine Drache auf und schaute wie gewöhnlich aus dem Fenster, auf den Fluß, der wie gewöhnlich in seinem Bett dahinrauschte, wenn auch etwas breiter und schneller vielleicht als im Sommer, auf die Bäume im Tal, die wie gewöhnlich einfach nur da waren und nicht mit ihm redeten, nur manchmal, wenn der Wind sie mit seinen unsichtbaren Händen streifte, ihm zuzuwinken schienen, auf die Wiese vor dem Fluß, die, vollkommen ungewöhnlich und unerklärlich für den Kleinen Drachen, von einer feinen, weißen Schicht bedeckt war. Wenn seine Mutter ihm jemals einen Kuchen gebacken hätte, oder wenigstens eine Waffel, dann hätte der kleine Drache sich gefreut über den Überzug aus Puderzucker und er wäre hinausgelaufen und hätte die Grashalme einzeln abgeschleckt und erstaunt festgestellt, wie seltsam dieser Zucker war - gar nicht so süß, wie er sich erinnerte. Aber die Mutter des Kleinen Drachen konnte nicht besonders gut backen und so wußte er nicht, was er von dem weißen Zeug auf der Wiese halten sollte.

Vollkommen verstört lief der Kleine Drache zu seiner großen Mutter, um sie zu fragen, was er mit der Wiese anstellen sollte, doch seine Mutter schlief tief und fest. Er kletterte auf seine Mutter und brüllte Ihr ins Ohr um sie zu wecken, er zwackte sie in die Seite, biß ihr sanft in den Schwanz und warf sogar einen winzigen Feuerball auf ihren Dicken Zeh; doch er schaffte es nicht, sie aufzuwecken. Der kleine Drache hatte nun noch ein Problem mehr: er konnte sich nämlich einfach nicht vorstellen, was seine Mutter da tat, warum sie auf einmal so tief schlief, so langsam atmete und überhaupt, was mit der schönen Welt passiert war, dieihm gestern noch so wundervoll einfach zu sein schien. Dabei war die Lösung zumindest des einen Problems ganz einfach, und wenn der Kleine Drache sie gekannt hätte, dann wären die anderen Probleme niemals aufgetaucht. Aber leider hatte der Kleine Drache den ganzen Sommer über gespielt und sich keine Zeit genommen, etwas über das Drachensein zu lernen, und seine Mutter hatte es versäumt, ihm zu erklären, was Drachen für gewöhnlich tun.

Denn das, was Drachen den lieben langen Tag über unternehmen, unterscheidet sich durchaus von dem, was der Kleine Drache in seinem bisherigen Leben getan hatte. Drachen springen nicht über Kuhweiden und versuchen nicht, Eintagsfliegen zu fangen. Sie stolpern nicht über die Löcher, die Mathilda in den Rasen gerissen hat und sie verdampfen auch keine Regentröpchen - zumindest nicht regelmäßig. Es weiß zwar kein Mensch, was Drachen wirklich tun, aber es wurde noch nie ein Drache gesehen, der sich so benahm, wie der Kleine Drache.

Leider hatte auch der Kleine Drache überhaupt keine Ahnung, wie Drachen sich für gewöhnlich benehmen, und deshalb benahm er sich so, wie sich der Kleine Drache für gewöhnlich benahm, was bedeutete, daß er versuchte, Eintagsfliegen zu fangen und über die Löcher stolperte, die Mathilda in den Rasen gerissen hatte. Wir können nicht umhin festzustellen, daß die eigentlich Schuld die Mutter des Kleinen Drachen traf und nicht unsere Hauptperson selbst, denn auch ein Drache lernt von dem, was seine Eltern ihm vormachen. Und da seine Mutter ihm im großen und ganzen gar nichts vorgemacht hatte und ihm erst recht nichts erklärt hatte, wußte der Kleine Drache nicht, daß Drachen zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt anfangen, Winterschlaf zu halten. Die Mutter des Kleinen Drachen hatte in dieser Nacht den Schnee fallen gehört, denn Drachen haben sehr feine Ohren und können auf zwanzig Kilometer Entfernung das Wiehern eines Pferdes vom Trompeten eines Elefanten unterscheiden, oder das Öffnen der Blüte einer Rose von dem der Blüte eines Schneeglöckchens; und sie wußte sofort, daß nun die Zeit für den Winterschlaf gekommen war. Hätte sie doch nur ihren Sohn geweckt und ihm gesagt, was er tun solle!

Doch wir wissen, daß der Kleine Drache in dieser Nacht nicht geweckt worden war. Natürlich hatte auch er den Schnee gehört, aber es gab so viele Geräusche in der Nacht, die er noch nicht kannte, und das Fallen des Schnees war eines der weniger furchteinflößenden.

Und so verbrachte der Kleine Drache einen ganzen Winter alleine in dem Haus an der Wiese am Fluß auf der halben Höhe des großen Berges. Und er war seit einer langen Zeit der erste Drache, der sah, wie langsam auch die Bäume im Tal von den weißen Massen bedeckt wurden, wie sich ihre Zweige unter der Last des Schnees bogen, wie der Fluß mit einer dicken Eisschicht überzogen wurde und wie Drachenfußspuren von den kalten Winterwinden verweht werden.

(C)1998 Richard Brauer

Diese Geschichte hat auch eine Fortsetzung namens Puh, ein Bär. Darin macht der kleine Drache sich auf die Verfolgung eines bei Nacht vorbeigekommenen anderen Drachens und läuft dabei sogar in einen Wald hinein.

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